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Kanzlei Tykwer & Kirsch
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Oberlandesgericht Hamm, I-9 U 89/09 / 13.07.2010

Tenor:

Auf die Berufungen der Beklagten wird - unter Zurückweisung der weitergehenden Berufungen - das am 20. Januar 2009 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund abgeändert.

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 4.668,- Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 24. September 2005 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger als Gesamt-schuldner zukünftige immaterielle und materielle Schäden aus dem Vorfall in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 2005 gegen 1.30 Uhr in dem ZUG D von B nach N vor-behaltlich eines Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger oder Dritte zu ersetzen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen der Kläger zu 30% und die Be-klagten als Gesamtschuldner zu 70%. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 20 % und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 80%. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die Beklagten auf materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld sowie Feststellung künftiger Einstandspflicht für materielle wie immaterielle Schäden in Anspruch. Der Kläger war in der der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 2005 Fahrgast in dem Nachtzug D von B nach N. Er hatte sich zum Schlafen in das Fahrradabteil des Zuges begeben und war auf dem Boden liegend in seinem Schlafsack eingeschlafen, als ihn die Beklagte zu 1), die bei der Beklagten zu 2) als Zugbegleiterin beschäftigt ist, gegen 1.30 Uhr durch Pfiffe mit einer Trillerpfeife aufweckte; in welcher Entfernung zum Kläger die Beklagte zu 1) die Pfiffe abgegeben hat, ist streitig.

Der Kläger hat behauptet, die Beklagte zu 2) habe sich zu ihm auf den Boden herunter gebeugt und ihm dann aus unmittelbarer Nähe mit der Trillerpfeife in sein linkes Ohr gepfiffen, dadurch habe er dauerhafte und sein Hörvermögen beeinträchtigende Innenohrschäden, insbesondere einen Tinnitus erlitten.

Demgegenüber haben die Beklagten sich darauf zurückgezogen, die Beklagte zu 1) habe lediglich im Stehen und also aus einiger Entfernung gepfiffen, weil der Kläger auch nach Ansprache nicht erwacht sei, jedoch aus Sicherheitsgründen nicht auf dem Boden des Fahrradabteils habe nächtigen können. Sie haben Hörverletzungen des Klägers in Abrede gestellt, hilfsweise die Kausalität der Pfiffe hierfür bestritten und behauptet, etwaige Hörschäden seien entweder durch die Lärmbelastung im Fahrradabteil des Zuges oder auch durch Arbeitsgeräusche verursacht, denen der Kläger als Schreiner ausgesetzt sei.

Das Landgericht hat die Klage weitgehend zuerkannt, lediglich das beanspruchte Schmerzensgeld von 3.500,- Euro mit Blick auf die seitens der Beklagten zu 1) im Strafverfahren in Anrechnung auf das Schmerzensgeld gezahlten 1.000,- Euro nur in Höhe von 2.500,- Euro zugesprochen. Es hat nach Anhörung des Klägers und der Beklagten zu 1) sowie Einholung eines medizinischen Gutachtens zu den behaupteten Innenohrverletzungen des Klägers für erwiesen gehalten, dass der Kläger aufgrund der Pfiffe der Beklagten zu 1) mit der Trillerpfeife einen dauerhaften Tinnitus zu beklagen hat.

Hiergegen richten sich die Berufungen beider Beklagter. Beide Beklagte rügen die Beweiswürdigung des Landgerichts zu der Frage des Bestehens eines Tinnitus beim Kläger wie auch zur Frage der Kausalität der Trillerpfeifenpfiffe für den behaupteten Tinnitus. Außerdem halten sie das zuerkannte Schmerzensgeld für unangemessen hoch und den geltend gemachten Verdienstausfall für nicht schlüssig dargetan.

II.

Die Berufungen haben in der Sache nur teilweise Erfolg. Die Beklagte zu 1) haftet dem Kläger gemäß § 823 Abs.1 und §§ 823 Abs.2 BGB, 229 StGB und die Beklagte zu 2) gemäß §§ 280 Abs.1, 278 BGB und § 831 BGB dem Grunde nach auf materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld; der Kläger kann daneben die Feststellung künftiger Einstandspflicht der Beklagten beanspruchen. Der Höhe nach ist das Schmerzensgeld allerdings auf 2.500,-Euro begrenzt, an materiellen Schadensersatz kann der Kläger bisher einen Betrag von 2.168,- Euro geltend machen.

1.

Die Beklagte zu 1) hat in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 2005 bei Ansichtigwerden des auf dem Boden des Fahrradabteils des Zuges D nächtigenden Klägers unstreitig Pfiffe aus ihrer Trillerpfeife abgegeben. Der Senat hat nach der erneuten persönlichen Anhörung des Klägers in dem Senatstermin am 27. November 2009 keinen Zweifel daran, dass die Beklagte zu 1) diese Pfiffe aus unmittelbarer Nähe zu dem Kläger abgegeben hat. Der Kläger schildert gleich bleibend, dass er Speichel auf seinem Gesicht wahrgenommen und deshalb starken Ekel empfunden hat, das ist wirklichkeitsgetreu und für den Senat ohne weiteres nachzuvollziehen.

2.

Diese Pfiffe aus der Trillerpfeife haben zu einer dauerhaften Schädigung der Hörfunktion des Klägers geführt. Der Senat stützt seine Überzeugung – ebenso wie schon das Landgericht – auf das gerichtliche Gutachten des Sachverständigen Dr. O vom 21. Oktober 2008. Zwar hat der Sachverständige bei seiner ausführlichen Untersuchung des Klägers rund drei Jahre nach dem Vorfall im Nachtzug keine Einschränkung seines Hörvermögens in Form einer Hochtonschwerhörigkeit mehr festzustellen und auch eine Haarzellenschädigung nicht mehr zu lokalisieren vermocht. Er hat aber bestätigt, dass der Kläger glaubhaft Auftreten und Verlauf einer Innenohrfunktionsstörung in Form eines Tinnitus schildert. Soweit die Beklagten hiergegen einwenden, dass der Gutachter das Symptom "Tinnitus" nicht habe objektivieren können, so liegt das in der Natur der Sache. Der Tinnitus ist eine akustische Wahrnehmung, der zusätzlich zum Schall, der auf das Ohr wirkt, wahrgenommen wirkt. Der Hörgeschädigte hört nur scheinbare Geräusche, die für Dritte nicht wahrzunehmen sind, man spricht deshalb auch von subjektivem Tinnitus. Der untersuchende Mediziner kann daher lediglich sagen, ob nachvollziehbar und plausibel derartige Geräusche geschildert werden, genau das aber hat der Sachverständige Dr. O dem Kläger bescheinigt. Hinzu kommt, dass der Sachverständige bestätigt hat, dass Trillerpfeifenpfiffe in einem geschlossenen Raum Lärmtraumata auslösen können unabhängig davon, ob sie nun aus unmittelbarer Nähe in das Ohr oder auch aus einiger Entfernung abgegeben werden. Ein Lärmtrauma ist aber eine mögliche Ursache für (subjektiven) Tinnitus. Berücksichtigt man schließlich, dass der Kläger nur rund 1 ½ Tage nach den Pfiffen einen Facharzt für HNO-Heilkunde aufgesucht hat und anlässlich dieses Besuches eine Hochtonschwerhörigkeit festgestellt wurde, spricht alles dafür, dass der Kläger tatsächlich ein Lärmtrauma durch die Pfiffe erlitten hat. Soweit die Beklagten demgegenüber geltend machen, ein etwa bestehender Tinnitus sei auf laute Arbeitsgeräusche zurück zuführen, denen der Kläger bei seiner Schreinertätigkeit ständig ausgesetzt sei, so spricht hiergegen entscheidend, dass der Kläger vor dem Vorfall vom 8/9. Mai 2005 nie in ohrenärztlicher Behandlung war und es daher kein Anhalt für einen derartigen Ursachenzusammenhang gibt. Dies gilt in gleicher Weise für die seitens der Beklagten zu 2) angeführte Lärmbelastung in dem Fahrradabteil ihres Zuges. Dass diese Lärmbelastung allein geeignet wäre, einen Tinnitus hervorzurufen, ist schon zweifelhaft, jedenfalls handelt sich um eine theoretische Möglichkeit, die der Senat mit Blick auf die belastenden Pfiffe aus der Trillerpfeife ausschließt.

3.

Ein Notwehrrecht kann die Beklagte zu 1) nicht für sich in Anspruch nehmen. Selbst wenn sie die Pfiffe zwecks Durchsetzung interner Sicherheitsvorschriften und also zwecks Wahrung des Hausrechts der Beklagten zu 2) in dem Zug abgegeben hat und man dieses Hausrecht auch als geschütztes Rechtsgut im Sinne des Notwehrrechts ansieht ( so OLG Düsseldorf NJW 1997, 3383), so war zur Abwehr eines Angriffs des Klägers auf das Hausrecht die massive körperliche "Verteidigung" der Beklagten zu 2) sicher nicht erforderlich. Denn der Kläger hat nach der eigenen Einlassung der Beklagten zu 1) "friedlich" auf dem Boden gelegen, was ihr hätte Anlass geben müssen, besonders "milde" zu reagieren, beispielsweise hätte sie kräftig neben dem Kläger auftreten können, ihn auch leicht mit dem Fuß anstupsen können.

4.

Hinsichtlich des gegen die Beklagten zu 1) gerichteten Anspruchs ist schließlich auch das Verschulden der Beklagten zu 1) zu bejahen, denn dass sie aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken die Grenzen der erforderlichen Verteidigung überschritten hat (§ 33 StGB), ist nicht ansatzweise dargetan. Selbst wenn sie die Befürchtung hatte, dass der Kläger beim Anfassen randalieren würde, so gab es für eine derartige Reaktion noch keinerlei objektiven Anhalt und die Beklagte war nicht ansatzweise einer unausweichlichen Stresssituation ausgesetzt, die ihre Überschreitung des Notwehrrechts entschuldigen könnte. Der Beklagten zu 1) war auch bewusst - mindestens hätte sie dies wissen müssen -, dass sie mit ihren Pfiffen in dem geschlossenen Fahrradabteil eine erhebliche Verletzungsgefahr für den dort befindlichen Kläger erzeugte.

5.

Ein Mitverschulden des Klägers ist nicht zu berücksichtigen. Selbst wenn er sich ohne Erlaubnis auf dem Boden des Fahrradabteils zum Schlafen niedergelegt hatte, hat er damit für die Reaktion der Beklagten zu 1) keinen vorwerfbaren Anlass gegeben oder diese gar herausgefordert oder provoziert, vielmehr war die Reaktion der Beklagten zu 1) - wie dargestellt - auf das Verhalten des Klägers grob unangemessen. Die Beklagte zu 1) hat äußerst aggressiv reagiert.

6.

Der Höhe nach ist das seitens des Landgerichts zuerkannte Schmerzensgeld nicht zu beanstanden. Die für Hörschäden zugesprochenen Schmerzensgelder bewegen sich bereits in leichteren Fällen in einem Rahmen von 1.000,- bis 1.500,- Euro, (Hacks/Ring/Böhm Schmerzensgeldtabelle 2007 laufende Nr. 523 und Nr. 576). Im Streitfall ist jedoch nicht nur zu berücksichtigen, dass ein dauerhafter Tinnitus nicht mehr als leichte Hörschädigung einzuordnen ist, zumal der Kläger glaubhaft geschildert hat, dass ihn die ständigen Hörgeräusche erheblich belasten. Darüber hinaus liegt dieser Hörschädigung eine mindestens grob-fahrlässige, wenn nicht bedingt vorsätzliche Körperverletzung zugrunde, so dass die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen ist. Im Ergebnis ist daher ein Schmerzensgeld von insgesamt 3.500,- Euro erforderlich und auch angemessen, nach Anrechnung der seitens der Beklagten zu 1) im Strafverfahren gezahlten Geldauflage von 1.000,- Euro verbleibt dem Kläger ein Schmerzensgeldanspruch von 2.500,- Euro.

7.

Die Kosten der Sauerstoff-Infusionen in Höhe von 1.368,- Euro sind gemäß § 249 BGB vollständig ersatzfähig. Der Begründung des Landgerichts gibt es nichts hinzuzufügen; Einwendungen hiergegen haben weder die Beklagte zu 1) noch die Beklagte zu 2) vorgebracht.

8.

Lediglich Verdienstausfall kann der Kläger nicht in geltend gemachter Höhe von 2.171,75 Euro, sondern lediglich in Höhe von 800,- Euro beanspruchen. Soweit das Landgericht ihm diesbezüglich im Wege der tatrichterlichen Schätzung den vollen Betrag zugesprochen hat, haben die Beklagten teilweise durchgreifende Einwendungen gegen die Grundlagen dieser Schätzung vorgebracht.

Im Ausgangspunkt ist allerdings die Berechnung des Klägers, der als Selbständiger Handwerksarbeiten zu einem Stundenlohn von 30,- Euro ausführt und seinen Verdienstausfall nach Abzug von 25% Betriebskosten auf der Basis der ihm aufgrund ärztlicher Konsultationen "entgangener" Arbeitsstunden berechnet, nicht zu beanstanden. Der Verdienstausfall betrifft die haftungsausfüllende Kausalität, hier gilt nicht der Strengbeweis des § 286 ZPO, vielmehr kommen dem Geschädigten die Beweiserleichterungen der §§ 252 Satz 2 BGB und 287 ZPO zugute, was bedeutet, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen kann. Dazu ist eine Prognose für die berufliche Entwicklung zu treffen, die der Geschädigte ohne den Vorfall genommen hätte. Im Streitfall war mithin eine Prognose darüber zu treffen, wie viele Arbeitsstunden mit einem geschätzten Ertrag von 22,50 Euro der Kläger ohne seine Hörschädigung hätte ableisten können.

Festzustellen ist zunächst, dass der Kläger zur Zeit der Verletzung vollständig und also acht Arbeitsstunden täglich ausgelastet war, denn unstreitig war er durch schriftlichen Vertrag vom 15. Mai 2005 von seinem Kunden T2 damit beauftragt, dessen Wohnung in Q zu renovieren. Darüber hinaus ergeben sich aus der zu den Akten gereichten handschriftlichen Auflistung des Klägers Zeiten für verletzungsbedingte Arztgespräche, Infusionen, Akupunktur- und Druckkammerbehandlungen von insgesamt 67,5 Stunden, die bestätigt werden durch die Atteste der behandelnden Ärzte Dr. T vom 1. Juni 2005 und Dr. I vom 21. Juni 2005. Im Einzelnen hat der Kläger diese Stunden aufgewendet für acht Infusionen, drei Akkupunkturbehandlungen, neun Druckkammerbehandlungen sowie vier Voruntersuchungen und Arztgespräche. Soweit der Kläger darüber hinausgehenden Zeitaufwand geltend macht, geht aus seiner Auflistung hervor, dass dieser nicht ersatzfähigen Aufwand für Internetrecherchen oder Vortragsbesuche zum Thema Tinnitus, Korrespondenz mit dem Anwalt oder auch dem ADAC betrifft. Selbst wenn im folgenden davon ausgegangen wird, dass dem Kläger eine Nacharbeitung der 67,5 Stunden Renovierungsarbeiten bei seinem Kunden T2 möglich war -Gegenteiliges hat er nicht hinreichend substantiiert dargetan -, dann wäre er in dieser Zeit gehindert gewesen, anderweitige Aufträge durchzuführen. Unter Annahme einer halben Auslastung des Klägers ergibt sich mithin ein Mindestschaden von 33,75 x 22,50 Euro, dies sind rund 800,- Euro. In diesem Zusammenhang ist den Beklagten zuzugeben, dass der Kläger eine Vollauslastung nicht darlegen kann, wenn er sich auch "subjektiv" nachvollziehbar als voll ausgelastet empfinden mag und der dahingehende Vorwurf eines Prozessbetruges durch die Beklagte zu 2) nur als verfehlt bezeichnet werden kann. Allerdings schätzt der Senat die Auslastung des Klägers auch auf Grundlage der im Zeitraum vom 1. Mai bis zum 1. Oktober 2005 ungeachtet der Arztbesuche erbrachten 383 abrechenbaren Arbeitsstunden auf vier Stunden täglich, mithin auf eine halbe Auslastung.

9.

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 286, 288 BGB. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr.10, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 543 Abs.2 ZPO.